WG116 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, Montag, 9. oder Dienstag, 10. Januar 1911

Meinen Neujahrsbrief wirst Du
nun hoffentlich geholt haben
ich warte auf Deine Antwort

 ich weiß, Du kannst kein
falsches Spiel treiben.
Wenn Du es nicht kannst,
so laß das Schreiben

 gewißer Kreislauf in
Deinen Briefen

 Schreibe mir nicht, wenn
Du keine Ruhe hast, wenn
Dich nicht das starke Verlangen
dazu treibt, ich will nicht,
daß Du es als Last empfindest
oder oder [!] in mußeloser Hetze

 Du löst Kräfte in mir
aus
M. Pallich zum Thee

 fühle mich gesund ein Über-
schuß an Lebenslust und Drang
nach Schönem

 Ich kenne diese Stunden
der offnen Arme, die
nur Impulsmenschen be-
schieden sind. So recht erst
seit ich Dich kenne

Fest sich anzusaugen ein Buch
Tragisches Schicksal   des

          Stolzes
, ich glaube ich bin
ein begeisterungsfähiger
Mensch

 Manchmal erschrecke ich
darüber, wie sehr ich einen
anderen Menschen in mich
hineinsehen lasse, aber,
Du hast mir sofort alles
geschenkt, was eine Frau
zu vergeben hat. Ich werde
Dir das nicht vergeßen, hörst
Du, ich werde das nicht
vergessen

 Und in Wahrheit, was
wissen wir denn von uns
wir ahnen uns ja nur. Als
wir uns kennen lernten
waren wir still vor Glück
und verschwendeten die
Minuten und dann gleich
kam das Verhängnis das \womit/ \ich/
Dich, Du beste, ins Unglück
stürzte. Die aller innigsten
\vertrauensvollsten/ Dinge, die man nicht
schriftlich von sich giebt,
Es geht mir gut u ich vergeße
Dich keine Stunde

In München schrieb ich Dir
so verworren lakonisch
in jenen furchtbaren Ta-
gen konntest Du mich
nicht verstehen

  _____

 Ich vertraue unerschütterlich
auf Deine Liebe. Ich ja, wenn
Du schriebst „ich liebe Dich nicht
mehr“ ich würde es Dir nicht
glauben. Das darf Deinen
Stolz nicht kränken. Diese
Sicherheit entspringt dem
glücklichen seligen Bewußt-
sein des Reichtums an
eigner Liebe, Deinen Stolz
darf sie nicht kränken.
Kennst Du die Anekdote
jener Französin die ihren
Liebhaber, der sie auf Un-
treue ertappt, mit den Wor-
ten verläßt: Wie – Du
traust Deinen Augen
mehr, als meinen Schwüren?

Gewißer Kreislauf in
Deinen Briefen

 M Pullich zum Thee
alte Briefe verbrannt
Fest sich anzusaugen an
geliebte Lippen

____________________________
ob wir glücklich werden.
Denke Dich uns zusammen –
wir lesend \die/ oder
oder ; wir
sp knüpfen unserer Gespräche
daran oder wir schweigen;
wir gehen leise an das Bett
unseres Kindes, um
seinen Schlaf zu sehn und
unsere Häupter sinken
zusammen \schwer/ von der Nei-
gung zum Kuße.
Zu viel Glück, als daß es
geschehen könnte !

Krankenlager
religiöses

  Tragik in meinem Leben


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , .

Quellenbeschreibung

4 Bl. (4 b. S.) – Notizblock, kariert.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

keine.

Datierung

Nach WGs eigener Aussage in diesem Entwurf und seiner Liste an AM abgeschickter Briefe (WG92) hatte WG am 1. Januar 1911 einen Neujahrsbrief (Nr. 17 in WGs Liste) nach New York versandt, nach dem er sich hier nun erkundigte (Meinen Neujahrsbrief wirst Du nun hoffentlich geholt haben). Bei einer Postlaufzeit von 8 bis 13 Tagen erreichte der Neujahrsbrief AM zwischen dem 9. und 14. Januar 1911. Da laut seiner Liste weiterhin ein Brief (Nr. 18) am 10. Januar abging, lässt sich vermuten, dass dieser Entwurf darin eingeflossen ist, weshalb eine Datierung auf den 9. oder 10. Januar 1911 vorgeschlagen wird.

Übertragung/Mitarbeit


(Tim Reichert)


A

M. Pallich – abweichende Schreibweise des zuvor in WG105 vom 17. bis 21. November 1910 erwähnten Namens Fr.[au] Pullich, vgl. auch AM52 vom 9. Dezember 1910: Pallish und in diesem Brief weiter unten: M Pullich.

B

Fest sich anzusaugen – in Tinte, Zitat wahrscheinlich aus Gedicht : „Nicht zu liebeln leis mit Augen, | Sondern fest uns anzusaugen | An geliebte Lippen“ (, S. 103).

C

Tragisches Schicksal – in Tinte.

D

In München […] nicht verstehen – s. WG115 vom 27. Dezember 1910 bis 1. Januar 1911: Münchner Brief.

E

Wie […] meinen Schwüren – vgl. in , Erstes Buch, Kapitel 34 („Weiteres über die Eifersucht“): „[…] denn du traust deinen Augen mehr, als meinen Worten!“ (, S. 107).

F

Karamasoffs von .

G

Oblomow – Roman von .

H

Ordas Krankenlager Bruder , genannt Orda, starb 1904 nach langen Leiden an Nierenversagen.

I

Tragik […] Leben – in Tinte.